Trageerschöpfung

Ein Begriff, der ganze Bücher füllen könnte. Ein Begriff, der für den heutigen Reitsport immer relevanter wird und den (meiner Meinung nach) jeder Mensch mit Nähe zum Pferd gehört und vor allem verstanden haben sollte.
Aber was genau ist das eigentlich?
Ich werde versuchen, Trageerschöpfung ohne zu viele Fachbegriffe und ohne Anspruch auf Vollständigkeit mit Hilfe von Fiete zu erklären. Wer mehr darüber erfahren möchte, sei jederzeit angehalten, mich dazu mit Fragen zu löchern.
Erst einmal grob:
Trageerschöpfung bezeichnet das Absacken des Pferdethoraxes zwischen den Vorderbeinen mit allen daraus resultierenden Folgen.
Gründe gibt es hierfür viele:
- Die heutige Zucht beschenkt uns mit bewegungsstarken, sehr beweglichen Pferden – meist auf Kosten der Stabilität, denn irgendwo muss diese Beweglichkeit ja herkommen. Diese Pferde wären also von Geburt an nicht reell ‚tragefähig‘ und müssten umso sorgsamer auf ihr Leben als Reitpferd vorbereitet werden.
- Bewegungsarmut führt ebenfalls in solche Muster. Die Pferde ’stehen sich kaputt‘ – sind ihre Gelenke, Muskeln, Faszien, Sehnen und Bänder doch eigentlich für fast permanente Fortbewegung konzipiert.
- Nicht zuletzt beeinflusst der Mensch/Reiter die Tragefähigkeit des Pferdes: Wie weich und federnd ist die Reiterhand? Wie balanciert der Sitz? Wie passend der Sattel? Wie gut die Hufpflege? Wie korrekt die Haltung? Wie hochwertig das Futter? Wie durchdacht ist die Gymnastizierung? Wie ausgeglichen ist die Nutzung des Pferdes als Reittier?
Sicher ließen sich hier noch etliche Faktoren aufführen, aber dieser kurze Abriss mag vorerst genügen. Wie gesagt, möchte ich am Beispiel Fiete weitere Aufklärungsarbeit leisten:

Hier sehen wir Fiete am Tag seiner Ankunft. Was fällt insgesamt auf? Natürlich bleibt er weiterhin der hübsche, bunte Fuchs. Doch jeder wird mir zustimmen, dass man dieses Pferd derzeit niemandem zum Angeben zeigen würde. Die Bemuskelung lässt zu wünschen übrig. Das Fell wirkt stumpf. Der Blick ist skeptisch. Er wirkt mehr eckig, denn rund. Zudem sieht Fiete überbaut aus. Wir erinnern uns an die Erklärung für Trageerschöpfung: ist dieser Thorax dort, wo er eigentlich hingehörte??
Das Ganze im Einzelnen:

Aus meiner Erfahrung ergibt sich, dass Trageerschöpfung häufig ihren Anfang in verspannten Strukturen des Unterhalses nimmt. Der Zug dieser Muskeln komprimiert die Gelenke am Übergang von Hals- zu Brustwirbelsäule in Richtung Streckung (häufige Diagnose: Facettengelenksarthrose). Ein Strecken der Brust-und Lendenwirbelsäule ist die reflektorische Folge. Ebenfalls bedeutsam ist, was sich hierzu im Inneren abspielt. Genau dort in der Tiefe liegt das Ganglion stellatum – ein Geflechtspunkt des Sympathicus (grob: ein Teil des autonomen Nervensystems, der für Flucht zuständig ist). Permanenter Stress in dieser Region schafft also gestresste Pferde.
Was man sich immer klar machen sollte: Der Reiter formt das Pferd. Wäre Fiete beim Reiten in die Lage gebracht worden, aus dem Oberhals zu tragen und den Unterhals zu entspannen, wären seine Unterhalsmuskeln nicht derart ausgeprägt. Sein Hals würde runder wirken.

Fietes Rücken wirkt übermäßig geschwungen. Seine Brust- und Bauchmuskulatur ist zu schwach, so dass der Thorax nach unten sackt (häufige Diagnose: Kissing Spines). Die Lendenmuskulatur, die unter Anderem am hinteren Ende des Thoraxes ansetzt, versucht ‚einzuspringen‘ – massive Verspannungen in diesem Bereich und ein steil Stellen des Kreuzbeines/Beckens sind die Folge.

Über den Zug der verspannten Rückenmuskulatur (hier: M. latissimus dorsi) in Richtung Schulter und die Abwärtstendenz des Thoraxes werden das Schulter- und das Ellbogengelenk komprimiert (häufige Diagnose: Arthrose). Die Ellbogen wirken ‚angeklappt‘, wenn man von hinten darauf schaut. Die Pferde holen das Vorfußen des Vorderbeines aus dem Beugen des Ellbogengelenkes, nicht aus dem Strecken des Schultergelenkes (man stelle sich einen rennenden Pinguin oder Bernd das Brot vor). Die Brustmuskulatur ist entsprechend verspannt.

Fiete positioniert seine Beine wie ein V unter seinem Körper. Dies ist Resultat der zuvor angesprochenen Muster, eine kleine Unterstützungsfläche kann mit weniger Kraftaufwand stabilisiert werden. Hierbei entsteht zu viel Dehnung auf vor allem die Tiefe Beugesehne und den Fesselträger genauso wie zu viel Zug am Hufbein (häufige Diagnose: ‚Sehnenschäden‘, ‚Hufrolle‘). Die Zehe der Vorderhufe werden lang, der Huf flach.
Fiete ist ein erst 6jähriges Pferd mit bereits klinisch relevanten Auffälligkeiten. Die ‚Haltbarkeit‘ eines Reitpferdes wird immer kürzer. Genau hier sollte die Frage nach dem ‚Warum‘ dringend in den Fokus rücken.
Ich hoffe, ich konnte hierzu ein wenig beitragen. Wer bis zum Ende durchgehalten hat: Tüchtig, denn obwohl ich hier nur an der Oberfläche dieses großen Themas gekratzt habe, weiß ich durchaus, wie anstrengend die Auseinandersetzung damit ist.
Wer längst aufgegeben und nur noch bis hierher gescrolled hat: Ich habe vollstes Verständnis, vielleicht liest es sich morgen leichter?
Veröffentlicht am: 30.12.2018